„Das Selbst ist nicht etwas Festes und Starres; es ist ein Prozess des Werdens.“
„Die Diagnose ist das Beste, was meinem Selbstwertgefühl je widerfahren ist.
Der Bescheid wurde zu einer Welle, die mich vorwärtstrug (…)
ich wurde von einer misslungenen Neurotypikerin zu einer normalen Autistin.
Das Glück und die Erleichterung darüber, endlich zu passen, war unglaublich.
Endlich wusste ich, wer ich war, konnte es annehmen und Ruhe finden.
Erst nachdem ich die Diagnose hatte, war ich mir sicher, als Mensch richtig zu sein.“
Clara Törnwall in Die Autistinnen S.225
Spät erkannte neurodivergente Menschen haben im Laufe ihres Lebens häufig effektive Copingstrategien¹ entwickelt, um unerwünschte Verhaltensweisen zu unterdrücken oder zu umgehen.
Zu großen intrapsychischen Spannungszuständen und Beeinträchtigungen in der psycho-sozialen und Identitätsentwicklung kann es kommen, wenn ein fortwährendes Missmatch zwischen inneren Wahrnehmungswelten, den damit einhergehenden Bedürfnissen und äußeren Rahmenbedingungen vorliegt. Wenn Neurodivergenzen als strukturelle Gegebenheiten innerhalb der Person nicht verstanden und anerkannt werden, kann ein durch die Gesellschaft eingefordertes und institutionell gefördertes Bestreben nach Anpassung und Masking², die Person in psychologische Folgeprobleme wie Erschöpfung, Depression, Ängste und Isolation treiben.
Viele spät erkannte und spät diagnostizierte neurodivergente Menschen durchlaufen einen intensiven Prozess in der Auseinandersetzung mit sich Selbst und den bisherigen biografischen Erfahrungen. In der Regel finden sie sich in solchen oder ähnlichen Phasen wieder:
Fassungslosigkeit & Irritation
Informationsbeschaffung & Abgleich
Erkenntnisgewinn & wachsendes Verständnis
Selbstakzeptanz
Integration
Es ist wichtig, eine bislang nicht erfolgte Diagnose in das eigene Selbstkonzept zu integrieren.
Menschen sind komplexe Wesen mit komplexen psychischen Strukturen und vielschichtigen biografischen Erfahrungen.
Es gilt in jedem individuellen Fall mit einem multidimensionalen Ansatz auslösende und aufrechterhaltende Bedingungen von belastenden Faktoren und Symptomen zu beschreiben, zu identifizieren und entsprechend einzuordnen:
ganz im Sinne des Bio – Psycho – Sozialen Modells³.
¹ Copingstrategien werden von Menschen angewandt um mit Herausforderungen, Stress, Druck oder Problemen umzugehen. Psychische Belastungen sollen bewältigt und eine Anpassung an schwierige Situationen erzielt werden.
² Masking bedeutet eine Anpassung an die vorherrschenden Umgebungsbedingungen und den damit verbundenen Vorstellungen von Normalität. Impulse und Symptome werden aktiv unterdrückt, was mit erheblicher Anstrengung einhergeht. Masking sollte nicht mit einer generellen sozialen Anpassung verwechselt werden, welche intuitiv und ohne vorherrschenden Leidensdruck geschieht.
Das ³ Bio-Psycho-Soziales Modell ist ein integrativer Ansatz zur Entwicklung eines Verständnisses über die Entstehung von Krankheiten und dem komplexen Zusammenspiel von unterschiedlichen, aufeinander einflussnehmenden ursächlichen Bedingungen und Faktoren.